Die
Frauenlinde
Auf
dem Schloss Zwingenstein lebte ein Burgfräulein,
das mit einem Grafen, der in fernen Landen wohnte, versprochen
war. Dieser Graf war nämlich vorzeiten durch Tirol gereist,
hatte in der Burg oben "auf der Weit" Einkehr genommen
und die schöne und liebreichche Tochter des Burgherrn
kennengelernt.
Die Hochzeit wurde aber länger, als der Verlobten lieb
war, hinausgeschoben, der Graf kam immer noch nicht, ja zuletzt
hörte sie von ihm gar nichts mehr. Wohl schrieb sie
ihm Brieflein und seufzte und weinte Tag und Nacht, aber
alles war vergebens.
Der Graf seinerseits wunderte sich nicht
wenig über
das lange Ausbleiben der Nachrichten von ihr, obwohl er öfters
Botschaft nach Zwingenstein getan hatte; allein, da das Fräulein
ihm Treue geschworen hatte, konnte er doch nicht so ganz
fest glauben, dass sie ihn vergessen und das Wort gebrochen
hätte. Darum wollte er sie auf die Probe stellen.
Er reiste über Land her gegen Zwingenstein und begehrte,
als Pilger verkleidet, am Burgtor Einlass. Nachdem man
ihm im Stüblein des Torwartes zu essen und zu trinken
gegeben hatte, führte man ihn auf seine Bitte zum Burgfräulein
hinauf. Diesem erzählte er, wie er im Hl. Lande gewesen
und wie der Graf, der ihr Verlobter war, im Kampfe gegen
die Heiden gefallen sei. Sterbend habe er ihm den Auftrag
gegeben, dem Fräulein seinen letzten Gruss zu überbringen
und dass er bis zum letzten Atemzug an sie gedacht habe.
Bei
diesen Worten wurde das Burgfräulein von Verzweiflung
erfasst; sie stürzte sich aus dem Fenster des Schlosses
in die Tiefe hinab und wurde dort, wo man ihren Leichnam
ganz zerschmettert aufgefunden hat, eingescharrt. Seit dieser
Zeit muss sie oben im Schloss und dessen Umgebung
als Geist ohne Kopf umgehen. Der Dornacherbauer hat den Geist
oft schon an jenem Abhang der Burg gesehen, über den
sie sich hinabgestürzt hat.
Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche
und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 210 f.
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